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Wir brauchen eine Demokratie-Kultur

Ein Kommentar von Sebastian Alscher, Bundesvorsitzender der Piratenpartei Deutschland, zur Bundespressekonferenz am 13. Januar zum Auftakt des zweiten bundesweiten Bürgerrates „Deutschlands Rolle in der Welt“.

Bei der Bundespressekonferenz zum Beginn des Projektes Bürgerrat “Deutschlands Rolle in der Welt” unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, erlaubte sich Herr Dr. Schäuble einen Kommentar zur Piratenpartei, auf den ich gerne Bezug nehmen möchte.

Als Piratenpartei setzen wir uns für Basisdemokratie ein. Wir glauben nicht nur, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, sondern auch, dass vernünftiges Regieren nicht funktioniert, ohne die Menschen einzubeziehen, die von den Entscheidungen betroffen sein werden. Für uns führt daher kein Weg an Volksentscheiden vorbei, die zu wichtigen Fragestellungen angestoßen werden sollten. Die Autorität der Staatsorgane ist eine von dem Menschen durch Wahlen verliehene. Und um die Stabilität unserer freiheitlich demokratischen Ordnung aufrecht zu erhalten ist es gleichermaßen wichtig, diese Autorität ständig zu bekräftigen. Eine offene Gesellschaft bietet die Möglichkeit, demokratisch zu wählen und abzuwählen. Eine Gesellschaft, die permanent in Entwicklung ist mit dem Ziel, den Status Quo für etwas besseres zu verwerfen. Stabilität bedeutet daher, regelmäßig zu bekräftigen, dass eine Abwahl nicht bevorsteht. Gleichzeitig wäre es ein Trugschluss, zu glauben, dass die Bekräftigung des Status Quo nur durch Wahlen erfolgen würde. Und dass gleichermaßen auch eine Abwahl, also ein Entzug der Autorität, nur durch Wahlen erfolgen könnte. Eine solche Resignation mit dem Zustand in der Gegenwart verleiht sich über vielerlei Wege Ausdruck. Wahlen sind nur eine Art diese sichtbar zu machen. Hier nur alle vier Jahre auf den Kompass zu schauen, ist meiner Meinung nach sehr gefährlich.

Auch Bürgerräte werden als ein solches Mittel verstanden, und sollen nun als nächster Versuch zu mehr bürgernahen Entscheidungen ausprobiert werden. Dr. Schäubles Schirmherrschaft ist, und da macht er keinen Hehl daraus, nun unverholen lediglich ein weiterer Versuch zu mehr Bürgernähe. Mein Ziel ist nicht, hier die Glaubwürdigkeit seiner Bereitschaft zu hinterfragen; er wird Bürgerräte der Alternative von Volksbefragungen schlichtweg vorziehen, quasi ein plebiszitäres Feigenblatt.

Nun erwähnte er im Rahmen der Pressekonferenz auch, es habe in Deutschland bereits ein Experiment gegeben, mit Namen Piratenpartei. Selbstverständlich ist es für mich als Bundesvorsitzenden etwas befremdlich, wenn der Präsident des Deutschen Bundestages eine nun 14 Jahre alte demokratische Partei, die nicht nur häufig kommunal vertreten ist, sondern auch seit 2011 in Parlamenten sitzt (Landesparlamente und dem Europaparlament), als Experiment bezeichnet. Aber auch das ist eben ein besonderer Blick auf die Demokratie, die aus der Zeit gefallen scheint. Er betonte, mit der Piratenpartei sei die Idee “immerwährender Plebiszite” grandios gescheitert. Und um eine Drohkulisse aufzubauen ergänzte er, man würde damit schneller dort enden, was man sich für Europa nicht mehr wünschen würde zu erleben. Die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger zu befördern brachte uns aber sicher nicht in jene dunkle Situation. Ein Mangel an Transparenz und Verantwortlichkeit ist es, der Misstrauen sät und Populismus Tür und Tor öffnet.

Die Piratenpartei hat nicht erreicht, dass in Deutschland ein immerwährendes Plebiszit abläuft, ein Urteil über die Auswirkungen und der Erfolg einer solchen Maßnahme steht daher noch aus. Gleichzeitig ist unser Eintreten für Volksbefragungen auch schwerlich vergleichbar damit, allein aufgrund technischer Möglichkeiten über jede marginale Entscheidung abzustimmen. Als deutsche Partei treten wir für das Grundgesetz ein und stehen auch hinter der repräsentativen Demokratie, weil sie in vielerlei Fragen das Entscheiden vereinfacht. Es geht bei Volksbefragungen jedoch weniger um eine operative Frage, sondern eine der politischen Kultur.

Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Umschalten einer repräsentativen Demokratie auf eine plebiszitäre Demokratie nicht ohne Weiteres zu einer stabilen freiheitlichen Demokratie führt. Worum es geht, ist, den politischen Geist, die politische Kultur zu ändern. Es geht um eine Kultur, die den Menschen deutlich macht, dass sie Teil des Entscheidungsprozesses sind, dass sie ihre Verantwortung für die Gesellschaft und die Entscheidungen, die wir treffen, nicht am Ausgang der Wahlkabine abgeben. Es geht um das Empowerment der Menschen, das Gefühl von Gestaltungskraft. Zahlreiche psychologische Studien zeigen den hohen Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeit und Depression. Das gleiche gilt auch für die erlebte Selbstwirksamkeit in der Demokratie.

Das Bestreben der Piratenpartei war und ist, sich dafür einzusetzen, dass Menschen die Möglichkeit haben, sich niedrigschwellig in politische Entscheidungsfindung einzubringen und Entscheidungen beeinflussen zu können. Sie sollen sich als Teil des Systems verstehen, wenn sie dies wollen. Selbstverständlich ist das eine Gefahr für bestehende Machtstrukturen. Das darf aber nicht zu Abwehrreflexen führen, sondern sollte als ein weiterer Baustein unserer Demokratie in die Gestaltungsprozesse Eingang finden.

Hierzu ist es aber wichtig, die Menschen wahrzunehmen, anzuerkennen und zu befähigen. Befähigung besteht nicht alleine in der Möglichkeit, Kreuzchen zu machen, sondern eben auch, sie entlang des Entscheidungsprozesses mitzunehmen, sie weiterzubilden. Das Umfeld zu schaffen, um diese Möglichkeit angemessen wertzuschätzen. Eine seriöse Auseinandersetzung mit politischen Themen zu erlauben und zu erzielen.

Gewiss kann ein Bürgerrat ein Versuch sein, hier plebiszitäre Möglichkeiten im Reagenzglas zu schaffen. Wir erleben eine Suggestion von Einflussmöglichkeiten ohne die tatsächliche Kraft der Einflussnahme, die möglicherweise eine bestehende Macht allzusehr erschüttert. Denn die Teilnehmer der Bürgerräte wissen gar nicht genau, woran sie beteiligt werden, und mit welchen Handlungs- und Machtoptionen sie nun tatsächlich ausgestattet sind. Und die Fragen nach der Zusicherung einer Übernahme der Ergebnisse, oder Forderungen aus den Bürgerräten, blieben unbeantwortet. Es war ein “wir werden sehen”… Eine bedingte Selbstwirksamkeit. Selbstverständlich stellt sich auch die Frage nach der Repräsentativität von Bürgerräten – sind sie Stellverteter aller Menschen? Solange Bürgerräte nicht institutionalisiert sind, wird man sich um die Antwort darauf drücken können. Gleichzeitig sollte es dann nicht überraschen, wenn mit ebendiesem starken Gegenargument im Rücken die Übernahme von Arbeitsergebnissen der Bürgerräte davon abhängen wird, was genau vorgeschlagen wird.

Dr. Schäuble mag sich also weiterhin verweigern, anzuerkennen, dass es soweit ist, eine zeitgemäße Politik-Kultur zu etablieren. Er mag auch weiterhin Politikprojekte begleiten, die an der Oberfläche einer Politiksimulation bleiben. Verantwortungsvoll wäre es aber, durch Beteiligungsmöglichkeiten für alle, die das wollen, eine Kultur zu fördern, die in Freiheit und Verantwortung die Gesellschaft mitgestalten kann, und die dazu beiträgt, einer wahrgenommenen Entkoppelung von politischen Entscheidungsträgern von den Menschen entgegen zu wirken. Denn dort liegt die große Gefahr einen Delegitimierung der politischen Autoritäten und Institutionen, und damit die große Gefahr eines Einreißens der Säulen, die unsere wehrhafte Demokratie tragen. Und genau das können wir uns nicht weiter leisten. Dazu haben wir zu viel zu verlieren.

2 Kommentare zu “Wir brauchen eine Demokratie-Kultur

  1. Thomas Bartsch-Hauschild

    Etablierte Parteien Demokratie hat ihre eigenen Regeln- Aufstiegsmuster und Machstrukturen.
    Deshalb braucht es andere Wege der Beteiligung am kritischen Dialog , mit dem Rest des Volkes.
    Mitreden verändert nichts nur wer die Macht entscheidet allein was er für richtig hält.
    Debatten über unterschiedliche Positionen im Bundestag, sind “Scheinargumente”
    und Gegner, Kompromisse
    sind keine Sachenscheidungen für die Beste Lösung und bewirken nicht das Optimum sondern ein Minimum.Die Differenz ist
    und bleibt weiter bestehen
    um der Umwelt zu Schaden.

  2. Thomas Bennühr

    Sehr gut geschrieben, Sebastian.
    Danke dafür.

    Aber auch wir werden uns ändern müssen.

    Wenn wir aus der Marginalität heraustreten wollen, müssen wir uns und unsere Prozesse kritisch hinterfragen.
    Und uns weiterentwickeln.

    Das wird einigen weh tun, die sich seit Jahren in die Parteiarbeit einbringen.

    Aber ich glaube, dass diese Mitglieder klug und erfahren genug sind, über ihren Schatten zu springen.

    Um die Partei nach vorne zu bringen.

    In eine Position, in der die ganzen guten Ansätze nicht
    visionär bleiben, sondern durch demokratische Prozesse die Chance besteht, diese Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.

    Viele Grüße

    Thomas Bennühr

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